Schach vor, während und nach Corona!

17. September 2022

Schach vor, während und nach Corona!

Julius Gerlach trat 2020 in unseren Verein ein, als damals 15-Jähriger. Wie war das für ihn, mit Schach anzufangen und direkt in den Lockdown zu gehen? Kein "normales" Vereinsleben, stattdessen viel im Internet. Und jetzt wieder alles in Präsenz. Eine spannende Perspektive und ein außergewöhnlicher Einstieg ins Schachleben.

Typisch!

Ein typischer Freitagnachmittag im Leben eines Schachspielers: Ich spiele eine Blitzpartie, schlage die Figur meines Gegners und drücke die Uhr, damit seine ohnehin schon knappe Zeit läuft. Aber keine Chance! Mein Gegner schlägt die Figur sofort zurück und ohne dass auch nur eine Sekunde von seiner Uhr heruntertickt, bin ich wieder am Zug. Wie das geht? Die Frage lautet eher, wo das geht, nämlich nicht in unserem Vereinsheim in Trier Süd, sondern auf lichess.org, auf chess.com oder chess24.com. Dort ist der sogenannte Premove gang und gäbe. Das Arbeiten mit diesen Premoves, also dem Eingeben des Zuges noch während der Gegner am Zug ist, war für fast zwei Jahre fester Bestandteil meiner Schachpartien, am Anfang noch zögerlich und vorsichtig, am Ende fast schon automatisch. Dass das am physischen Brett nicht mehr funktioniert, war eine große Umstellung. Nach über zwei Jahren Pandemie ist vieles anders, meine DWZ-Zahl hingegen ist fast unverändert auf dem Niveau des Jahres 2020, auch wenn ich inzwischen deutlich mehr gelernt und einiges an Erfahrung gesammelt habe. Aber ich hatte schlichtweg keine Chance, dieses Können am Brett zu zeigen. Immerhin konnte ich Schach weiter durchgehend spielen und somit mein Rating auf Online-Plattformen verbessern. Bei fortgeschrittenen Spielern, die ihre DWZ- und ELO-Zahlen lange schon verglichen haben, sind nun die Online-Ratings zum Maßstab des Könnens geworden.

Online-Schach: Gleich, aber doch anders

Das ist nachvollziehbar, birgt aber auch Risiken. Denn online wird fast ausschließlich mit kurzer Bedenkzeit gespielt, etwa mit 5 Minuten, 3 Minuten oder sogar mit 1 Minute oder noch weniger. Die klassischen Wertungszahlen hingegen spiegeln die Spielstärke in klassischen, langen Partien wider.

Das Brett online ist kompakter und übersichtlicher, Farben und Kontraste können nach Belieben verändert werden und man hat nach langer Zeit online den Eindruck, am echten Brett weniger zu sehen, als müsse man sich mehr Mühe geben, das ganze Brett zu überblicken. Online ist in einem Endspiel mit 10 Sekunden noch alles offen – am Brett hingegen ist das so gut wie verloren. Als nach einem Jahr die ersten Spieler unter strengen Auflagen wieder in den Verein zurückkehrten, war das Niveau der abendlichen Blitzpartien wohl auf einem Jahrestief.

Dafür hat sich mittlerweile ein fester Kern von Vereinsspielern gebildet, die sich jeden Donnerstag und Sonntag um 8 Uhr abends online mit anderen Vereinen messen, in der sogenannten Quarantäneliga. Diese Turniere wurden während Corona als Ersatz für die ausgefallen Wettkämpfe am echten Brett erdacht, gewissermaßen als Ersatz für den normalen Spielbetrieb. Mannschaften messen sich in verschiedenen Ligen für zwei Stunden mit kurzer Zeitkontrolle, die besten 8 Einzelergebnisse einer Mannschaft machen dann eine Gesamtpunktzahl aus, die über Auf – oder Abstieg in die angrenzenden Ligen entscheiden. Während Corona hatte diese Liga ein gewaltiges Wachstum – von 0 auf fast 600.000 Spieler in knapp 18 Monaten.

Doch dem regelmäßigen Spieler fällt auf, dass die Beteiligung hier wieder abnimmt, ein Indiz dafür, dass auch die Auswirkungen von Corona allmählich wieder abebben. Die Spieler kehren vermehrt in die Vereine zurück oder wenden sich gar von ihrem Zeitvertreib im Lockdown gänzlich ab.

Corona: etwa doch positiv?!

Trotz all der Unannehmlichkeiten, die Corona dem Vereinsschach bereitete, muss man der Krankheit eines zugutehalten: sie trug auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen dazu bei, dass Schach weltweit bekannter, geschätzter und beliebter ist. Man kann fast sagen, Schach wurde vom Sport einiger weniger zum Sport einer großen Masse. Zumindest ist Schach viel besser durch Corona gekommen als andere Sportarten, weil online ebenso gut geht, z.B. ununterbrochenes Training – das gab es so in kaum einer Sportart!! Und wir Schachspieler sind ohnehin daran gewöhnt, kreative Lösungen zu finden. Das zeigt sich auch beim Onlineschach, wo viele neue Zeitkontrollen und neue Spielmodi, neue Trainingsmethoden und neue Zeitvertreibe (Hyperbullet, Atomic, Puzzle Rush uvm.) etabliert wurden. Einige Spieler konnten ihr Spiel innerhalb kurzer Zeit durch intensive Beschäftigung enorm verbessern und profitieren bis heute davon.

Als ich im Frühjahr des Jahres 2020 in den Verein eintrat, hätte ich mir sicherlich nicht ausgemalt, dass ich die nächsten zwei Jahre Training fast nur online stattfinden würde und dass ich meine neuen Vereinskameraden über diesen Zeitraum nicht – oder nur gelegentlich, hinter weißen und blauen Masken verborgen – sehen würde. Aber jetzt, zweieinhalb Jahre nach meinem Eintritt in den Verein, kann ich selbst entscheiden, wo, mit wem und wie schnell ich Schach spielen will: freitags im Training, sonntags mit langer Bedenkzeit in der Liga und zwischendrin ein paar Blitzpartien bei Lichess um meine Eröffnungen und mein Endspiel zu verbessern – so kann’s bleiben.